Geisterstadt in den USA (2024)

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Todd Domboski war erst zwölf Jahre alt, als sich vor ihm ein Abgrund auftat. Der Schüler verbrachte den Valentinstag 1981 zusammen mit seinem Cousin Eric. In Centralia im US-Bundesstaat Pennsylvania schraubten die Zwei an jenem sonnigen Samstagvormittag in der Garage ihrer Großmutter an einem Motorrad, als Todd durch das offene Tor Rauch hinter dem Haus entdeckte.

Hatte jemand eine Zigarette in die Büsche geschnippt? Der Junge ging in den Garten, um nachzusehen, woher der Qualm kam. Plötzlich brach der Boden unter seinen Füßen ein: Todd rutschte in eine mehr als einen Meter breite Spalte. Bis zur Hüfte im Schlamm versuchte er, sich am Rand festzukrallen, doch immer wieder glitten seine Hände ab, er fand keinen Halt. "Ich werde sterben", dachte der Siebtklässler. Mit letzter Kraft gelang es ihm, sich an einer Baumwurzel festzuklammern.

Inmitten giftiger Dämpfe, bei 170 Grad Hitze, bangte Todd Domboski um sein Leben. Eric, der Todds Schreie gehört hatte, kam herbeigeeilt und zog seinen Cousin heraus. "Es war wahnsinnig heiß, es stank und es klang dort unten so, als würde der Wind heulen", erinnerte sich Todd später an die Minuten, in denen er einem unterirdischen Inferno gefährlich nah gekommen war.

Fast zwei Jahrzehnte lang kokelte damals schon ein Minenfeuer unter Centralia, der Kleinstadt im östlichen Kohlerevier Pennsylvanias. Doch bis zu jenem 14. Februar waren sich die Bewohner der Gefahr offenbar nicht bewusst, die unter ihnen schwelte. Sie hatten das drohende Unheil zunächst mit Gelassenheit und Humor genommen. Im Dorf witzelten sie darüber, dass man Heizkosten spare, weil die Feuerwärme über die Keller in die Räume steige; im Winter müsse man keinen Schnee schippen und zu Weihnachten könne man im Garten Tomaten ernten. Erst Todds Unfall setzte der naiven Sorglosigkeit schlagartig ein Ende. Dabei hatte es in den Jahren zuvor schon genügend Vorfälle gegeben, die das drohende Unglück ankündigten.

Kanarienvögel als Frühwarnsysteme

Ausgebrochen war das Feuer 1962 auf einer Mülldeponie am südöstlichen Stadtrand, in der Nähe des Veteranenfriedhofs. Es sollen Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr gewesen sein, die den Brand entfachten - als sie Centralia für den Memorial Day am 30. Mai herausputzten und den Unrat auf einer Halde verbrannten. Die Männer schütteten Wasser auf die glimmende Asche, aber die Glut erlosch nicht: Das Feuer kroch in die riesigen, verlassenen Anthrazitkohleminen und drang bis zur gewaltigen Buck-Mountain-Ader durch. Von dort griff es auf drei weitere Flöze über.

Sieben Jahre später zogen die ersten Familien weg aus Centralia. Ihre Häuser standen in unmittelbarer Nähe des Brandherdes, wo eine hohe Konzentration von Kohlenmonoxid festgestellt worden war. Das geruchslose, giftige Gas drohte in die Wohnungen einzudringen. Als lebendes Frühwarnsystem hatten sich einige Bewohner einen Kanarienvogel gekauft: Solange der Vogel sang, war alles in Ordnung. Eines Tages war das Tier von der Stange gefallen, der unsichtbare Tod lag förmlich in der Luft.

Das Feuer breitete sich rasch aus. 1979 musste der Tankwart im Ort seine Zapfsäule dichtmachen - wegen Explosionsgefahr. Er hatte unter seinem Benzintank eine Temperatur von 78 Grad Celsius gemessen. Zwei Jahre später registrierten städtische Mitarbeiter unter der Route 61 sogar 410 Grad. Der Asphalt wölbte sich aufgrund der Hitze nach oben. Es entstanden Risse, die schließlich zu einem 300 Meter langen Schlund aufbrachen - groß genug, um Autos zu verschlingen. Die Gemeinde ließ die Schnellstraße sperren.

Geisterstadt in den USA (1)

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Centralia, Pennsylvania: Rauchschwaden und Schwefelgeruch

Foto: DON EMMERT/ AFP

"Es ist ein Alptraum", schilderte eine Frau 1981 der "New York Times". "Wir fühlen uns nicht mehr sicher." Todds Absturz in jenem Jahr hatte die Leute aus Centralia aufgebracht. Einige von ihnen organisierten sich in Bürgerbewegungen. Sie demonstrierten auf der Straße, hingen in der ganzen Stadt Protestschilder auf und erzählten Journalisten ihr Schicksal. Die erzürnten Bürger warfen den Behörden vor, versagt und zu langsam gehandelt zu haben. "Es muss erst jemand sterben, damit wir die Hilfe kriegen, die wir brauchen", beschwerte sich eine Bewohnerin.

Von der Landkarte gestrichen

Wie ein gieriges Tier mit vier Armen hatte sich das Feuer unter Tage durchgefressen. Es gedieh in den stillgelegten Stollen, den Versorgungstunneln, mäanderte durch Luftschächte und wuchs zum gewaltigsten Minenfeuer Amerikas heran. Und es verzerte bis heute eine Fläche von rund 35 Fußballfeldern - ohne dass es jemand stoppen konnte.

Das erste Angebot, es zu versuchen, hatte eine Firma der Stadt bereits 1962 gemacht und vorgeschlagen, den Brandherd für 175 Dollar auszugraben. Doch die Stadtherren lehnten ab, sie wollten den Untergrund erst genauer untersuchen: Sie ließen Löcher bohren und die Temperaturen im Boden messen. Es vergingen drei Jahre, bis sie schließlich versuchten, die Glut auszugraben. Insgesamt dreimal. Ohne Erfolg. Sie errichteten unterirdische Barrieren, pumpten Tausende Lastwagenladungen Sand, Schaum und Asche in den Untergrund. Und sie bauten einen Lehmwall, um den Brand aufzuhalten. Rund 70 Millionen Dollar stellte die US-Regierung für alle diese Maßnahmen bereit. Doch nichts half.

1983 schätzt eine Firma, dass die endgültige Beseitigung des Feuers weitere 663 Millionen Dollar kosten würde. Zu teuer, zu ungewiss die Erfolgschancen, befand der Kongress. Er empfahl die Evakuierung Centralias. Für die Umsiedlung der verbliebenen 1100 Bewohner stellte er 42 Millionen Dollar zur Verfügung.

Bulldozer rücken an

Die Ankündigung spaltete die Stadt in zwei Lager: Auf der einen Seite standen diejenigen, die bereitwillig wegziehen, auf der anderen jene, die bleiben wollten. Die Verängstigten unter ihnen stimmten in einem Referendum im August 1983 dann aber doch zu, ihre Häuser an den Staat zu verkaufen. Nur einige Ruheständler lehnten das Angebot weiterhin ab: Sie wollten Centralia nicht mehr verlassen - es war ihre Heimat, der Ort, wo sie zur Schule gegangen waren, Arbeit fanden, heirateten und ihre Kinder großzogen. Sie blieben.

Wenige Monate nach der Abstimmung, kurz vor Weihnachten, rückten die ersten Bulldozer an. Die nun leerstehenden Holzhäuser wurden zertrümmert, selbst die Kirchen dem Erdboden gleichgemacht. Auch das Haus von Todds Großmutter walzten die Abrisstrupps nieder.

Heute führen die einstigen Auffahrten der Grundstücke auf leere Wiesen, in den Dehnungsfugen der Straßen wuchert das Unkraut, wo einst Häuser waren, stehen nur noch Mauerreste: Die wenigen verbliebenen Einwohner leben wie in einer Art Geisterstadt, seit Januar 1992 gilt ihr Aufenthalt dort als illegal. Die Regierung ließ die letzten Hausbesitzer enteignen und machte sie zu Besetzern ihrer eigenen Häuser. 2003 verlor der Ort überdies seine Postleitzahl, das Gebiet wurde dem nahe gelegenen Ashland zugeschlagen.

Heiße Erde

Auf neueren Landkarten wird Centralia oft gar nicht mehr eingezeichnet. Abenteuerlustige Touristen finden den Weg dorthin dennoch. Sie fahren in die ehemalige Minenstadt, um die gespenstische Szenerie mit der Kamera festzuhalten.

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Das erschreckende Ausmaß der Katastrophe zeigt sich vor allem auf einem Hügel hinter dem Friedhof. "Durchgang verboten" steht auf einem gelben Schild. Aus Erdlöchern, Spalten, Überwachungsrohren steigt weiß-gräulicher Qualm und Dampf empor, der in dichten Schwaden über das Brachland wabert. Ein leises Zischen ist zu hören: Gas, das nach oben entweicht. Es riecht nach fauligen Eiern: Schwefel, der in der Nase und in den Augen brennt, und sich als schmieriger Film auf das lauwarme Wasser in den Pfützen legt.

Wo noch Gras wächst, ist es braun verkohlt. Die verkokelten Äste der abgestorbenen Bäume ragen gen Himmel, die Stämme junger Ahornbäumchen sind von Rauch und Regen weiß gebleicht. Im Wald hat der Brand eine Spur der Verwüstung hinterlassen, er schlug eine knapp 200 Meter breite Schneise ins Gehölz.

Manchmal noch brechen Flammen durch die modrig-warme Erde. Dort, wo sie sich ihren Weg nach oben bahnen, gewähren sie den Besuchern einen Blick auf einen rot glühenden Untergrund: Noch bis zu 300 Jahre, schätzen Experten, könne das Feuer weiterlodern, bevor es von allein verlischt. Genügend Nahrung hätte der Brand jedoch für ein weiteres Jahrtausend.

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